Synagoge und Erinnerung – Beitrag zur Gedenkfeier am 22. Oktober

Vor kurzem erst, am letzten Sonntag, ist «Sukkot» zu Ende gegangen, das Laubhüttenfest, das wir hier in Gernsbach auch schon symbolisch gefeiert haben und das vom 15.–21. des Monats Tischri dauert, also eine ganze Woche, in der man nicht im Haus leben soll, sondern außerhalb – eben in einer selbstgebauten Hütte, einer «Sukka», und dort wenigstens die Mahlzeiten einnehmen.

Es ist ein Fest, für das es viele Vorschriften gibt. So soll etwa das Dach, unter dem man lebt, den Blick auf die Sterne ermöglichen und nicht durch etwas anderes überdeckt werden. Es sind mehr Vorschriften als für die meisten anderen Feste. Es soll sichergestellt werden, dass man so genau und intensiv wie möglich eine Schlüsselepisode der jüdischen Geschichte nachvollzieht. Denn es wird hier der Exodus gefeiert, der Auszug aus dem Exil in Ägypten, als die Hebräer während der Wanderung durch die Wüste in einfachen Unterständen auf den Feldern lebten, eben in den Laubhütten.

Ohnehin dient alles, was man sagt und tut im Gebet und bei den Festen, zu Hause wie in der Synagoge, dazu, persönlich mitzuerleben, am eigenen Körper und in der eigenen Zeit, was dem Volk Israel geschehen ist, an Positivem wie der Offenbarung ebenso wie an Negativem wie dem Exil.

Es ist eben kein Nacherleben, sondern ein Miterleben, keine “Wiederholung”, sondern eine “Erneuerung”, wie Franz Rosenzweig 1921 im «Stern der Erlösung» sagt, dem Gründungsbuch der jüdischen Renaissance: «Jeder einzelne soll den Auszug aus Ägypten so ansehen, als wäre er selbst mit ausgezogen».

Und deshalb sagt er auch: «Die historische Erinnerung ist kein fester Punkt in der Vergangenheit, der jedes Jahr um ein Jahr vergangener wird, sondern eine immer gleich nahe, eigentlich gar nicht vergangene, sondern ewig gegenwärtige Erinnerung».

Die Erinnerung und das, was erinnert wird, sind nichts Vergangenes, sondern Gegenwärtiges. Deshalb sind diese Traditionen so wichtig. In seinen Traditionen ist die Offenbarung an das jüdische Volk lebendig, und damit auch in diesen Festen – das Leben selbst liegt in diesen Traditionen.

Sukkot ist eben auch ein fröhliches Fest. Obwohl es doch immer an die Brüchigkeit und Flüchtigkeit des Zuhauseseins erinnert, daran, dass es nicht selbstverständlich ist. Dass man sich nicht zu sicher fühlen und zu bequem einrichten soll.

Und so ist auch die Synagoge, das Zentrum jüdischen Lebens, zunächst einmal nicht mehr als ein Gebäude, in dem man zusammenkommt – daher der hebräische Name «beit ha knesset», «Haus der Versammlung». Eine Synagoge ist also kein fester, heiliger Ort wie eine Kirche, der ein Territorium markiert und für ein höheres Wesen und die eigene Religion beansprucht.

Sie ist nicht ein Tempel wie derjenige, verlorene von Jerusalem, das «beit ha mikdash», das «Haus des Heiligen». Aber die Synagoge ist doch die Erinnerung daran, und das Heilige kann dort lebendig werden – so wie zu Hause der «Kiddusch», gesprochen wird, die «Heiligung», am Vorabend des Schabbat, also gestern Abend, ein kurzes Gebet, mit dem Wein in einem Kelch oder Becher gesegnet wird.

In der Synagoge wird das heilig, was im «Aron ha Kodesh» aufbewahrt wird, dem «Schrank des Heiligen», und das ist natürlich die Thora, der Kern der Überlieferung. Sie ist nicht per se heilig, sondern wenn sie gelesen wird, was ja feierlich geschieht, und wenn sie gelebt und gefeiert wird.

Das eben geschieht in der Synagoge, denn es braucht dafür eine bestimmte Anzahl von Teilnehmenden, und so geschah es in der Gernsbacher Gemeinde, die immer größer wurde und sich mit der Gemeinde in Hörden zusammentat, um sich 1928 von Richard Fuchs diese wunderbare Synagoge bauen zu lassen, die dort stand, wo heute der Synagogenweg verläuft. Und auch wenn sie auf den ersten Blick wie ein vertrautes Haus aussah, erinnerte sie die Davorstehenden doch schon an der Straßenseite an die jüdische Überlieferung, vor allem mit der frei stehenden, hoch aufragenden Gesetzestafel für die zehn Gebote, die Moses am Sinai empfing, und dem Vorbau, in dem die Thorarolle im Aron ha Kodesh aufbewahrt wurde; dieser Vorbau zeigte in die Richtung nach Jerusalem und bildete außen eine Reihe von Bögen, die man als gotische Spitzbögen hätte verstehen können, die aber mindestens für alle jüdischen Augen sofort als die Stämme und das Blätterdach einer Laubhütte erkennbar wurden und damit an die Grunderfahrung des jüdischen Volkes vom Leben im Exil oder in der Diaspora erinnerten.

Franz Rosenzweig beschreibt es so: «Das Hüttenfest ist das Fest der Wanderung zugleich und der Ruhe; […]. Da mag sich das Volk erinnern, daß auch das Haus des jeweils heutigen Tags, mag es noch so sehr zur Ruhe und zum sichern Wohnen verlocken, doch nur ein Zelt ist, das vorübergehende Rast erlaubt auf der langen Wanderung durch die Wüste der Jahrhunderte; denn erst am Ende dieser Wanderung winkt die Ruhe, von der der Erbauer des ersten Tempels einst, wie eben an diesem Fest verlesen wird, sagte: Gepriesen sei, der seinem Volke Ruhe gab.»

Als die Gernsbacher Synagoge eingeweiht wurde, konnte niemand voraussagen, dass sie nur zehn Jahre stehen würde, dass die jüdische Gemeinde fast vollständig ausgelöscht werden würde, dass der «Rest» ins Exil getrieben würde, wie auch der Architekt, Richard Fuchs, der im Exil nie Fuß fasste. Aber es erscheint uns wiederum wie eine schrecklich wahre Prophezeiung und zugleich wie der unbrechbare Wille zur Selbsthauptung, zum Leben und zum Überleben, was Franz Rosenzweig schon 1921 in sein Resumée schrieb: «Das Judentum und sonst nichts auf der Welt erhält sich durch Subtraktion, durch Verengung, durch Bildung immer neuer Reste. […] Die jüdische Geschichte ist, aller weltlichen Geschichte zum Trotz, Geschichte dieses Rests, von dem immer das Wort des Propheten gilt, daß er «bleiben wird».»

Ulrich Maximilian Schumann

vorgetragen am 22. Oktober bei der Gedenkfeier auf dem Gernsbacher Salmenplatz