Gesprächsreihe Arbeitskreis Stadtgeschichte “Unsere Räume”, Freitag 22. Juli 2022
Gernsbach ist seit über 800 Jahren in machtpolitische Räume eingebunden, die auf die Bewohner einwirkten und ihr Schicksal bestimmten. Als erste, historisch näher fassbare Macht gewann das Domstift Speyer im unteren Murgtal Einfluss. Gernsbach entwickelte sich sozusagen im Schatten des Domes. Als Gründer des Ortes gelten die Herren und Grafen von Eberstein (erstmals erwähnt 1085). Nicht lange nach 1102 wurden sie Vögte des 1041 vom Salierkaiser Heinrich III. an Speyer geschenkten Landgutes Rotenfels und konnten von dieser Position aus ihre Stellung in der Region zunächst erheblich erweitern. Reizvoll ist die Überlegung, ob die Stellung als Vögte eines Domstifts nicht schon von den Herren von Michelbach angestrebt wurde. Werinhard senior und seine Söhne Werinhard junior, Eberhard und Cuno (1100-1123 Bischof von Straßburg) erbauten zwischen 1041 und 1056 in Michelbach die erste nachweisbare Höhenburg im Südwesten und bemühten sich immer wieder, dem Domstift möglichst viel Besitz zu entreißen, bevor Kaiser Heinrich IV. als Schutzherr von Speyer sie 1102 dazu zwang, sich aus dem Murgtal zurückzuziehen. Auch in den folgenden Jahrhunderten übte Speyer großen Einfluss aus. Nicht nur als zuständiges Bistum (Gernsbach lag in der Diözese Speyer), sondern auch als Empfänger von zwei Dritteln der Zehntabgaben. Die Zehntabgaben führten später, besonderes im 16. und 17. Jahrhundert zu zahlreichen Streitigkeiten zwischen den Bürgern und der Domgeistlichkeit. Letztlich waren sie sogar dafür mit verantwortlich, dass sich die Stadt der Reformation anschloss. Für den Pfarrer blieb infolge des Geldabflusses nach Speyer so wenig festes Gehalt, dass er offenbar seine Pflichten der Gemeinde gegenüber vernachlässigte.
Der nächste machtpolitische Einflussbereich, in den Gernsbach hineingezogen wurde, war die Markgrafschaft Baden. Aufgrund von Besitzteilungen, Heiraten und unglücklichen Erbgängen verloren die Ebersteiner in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts ihre hervorragende Position und mussten ab 1387 ihre Grafschaft sogar mit den konkurrierenden Markgrafen teilen. Nach dem Aussterben der Ebersteiner 1660 ging das Gebiet in der Markgrafschaft beziehungsweise im Großherzogtum Baden auf. Im 19. Jahrhundert geriet Baden dann in den machtpolitischen Raum von Preußen-Deutschland. Viele Badener kämpften 1848/49 für ein einiges Deutschland und eine liberale Verfassung mit bürgerlichen Grundrechten. Aber die Revolution scheiterte, im Gefecht von Gernsbach am 29. Juni 1849 wurde die letzte Verteidigungslinie an der Murg durchbrochen. Die Bürger resignierten, zogen sich ins Wirtschaftsleben zurück oder wanderten aus. Demokratische Verantwortung und Teilnahme am Staat waren nicht möglich und wurden daher auch nicht eingeübt, die liberalen Ziele der Revolution waren auf lange Sicht gescheitert. Die angestrebte deutsche Einheit führte 1871 nach mehreren Kriegen Otto von Bismarck herbei. Allerdings bildete Preußen-Deutschland einen für die Nachbarn bedrohlichen Machtblock im Herzen Europas. Bismarck gelang es noch, das Gleichgewicht zu halten, seinen Nachfolgern nicht mehr.
Neben den machtpolitischen Räumen gibt es in Gernsbach auch etliche kunstgeschichtliche Räume zu entdecken. In der St. Jakobskirche und der Liebfrauenkirche macht sich der Einfluss aus Burgund bemerkbar. Das Ganzkörper-Federkleid eines Engels am Schaft des Tabernakels in St. Jakob (um 1467) erinnert an einen Engel am Mosesbrunnen in der Chartreuse de Champmol (um 1400) von Dijon. Die Engel vom Mosesbrunnen zeigen ebenso viel „Lust an Locken“ wie die Schnitzfiguren in der Liebfrauenkirche. Die Neugestaltung der Gernsbacher Oberstadt durch Friedrich Weinbrenner nach dem großen Stadtbrand von 1798 weist nach Italien.