Worte zum 22. Oktober 2024 auf dem Salmenplatz

Heute Abend treffen wir uns, weil wir an die Menschen erinnern wollen, die als Jüdinnen und Juden aus Gernsbach deportiert und ermordet wurden.
Wir alle bedanken uns bei den Schülerinnen und Schülern der Realschule, die sich ihre eigenen Gedanken zu diesem Tag gemacht haben und sie im Anschluss mit uns teilen werden, und bei ihrer Lehrerin Elvira Schulz, sowie bei Bürgermeister Julian Christ, der danach die neun Namen der aus Gernsbach deportierten Menschen verlesen wird. Dann werden wir neun Kerzen anzünden, für jeden erinnerten Menschen eine, und gehen damit zu den Gedenksteinen an der Murgbrücke. Dann können wir still auseinandergehen.
Auch wenn die Religion selbst gar nicht den Ausschlag gab für die Vertreibungen, Deportationen und Tötungen, sondern verquere Ideen von Deutschtum, Rasse un ähnlichem, können wir doch bei dieser Gelegenheit ein klein wenig zurückholen von einem jüdischen Lebensgefühl, einer Idee vom Leben, die mit der besonderen Religion und Tradition zusammenhängt und damals auch das Leben der Nichtjüdinnen und -juden bereichert hat.
Weshalb wir uns zunächst daran erinnern dürfen, dass wir uns ja mitten in einem jüdischen Fest befinden, dem Chag ha Sukkot, dem Laubhüttenfest. Einer Woche, in der man nicht in der gewohnten Umgebung leben soll, sondern eben in einer Hütte, aus Laub, Blättern, Ästen usw. gebaut.
Dazu betet man entsprechend:
בָּרוּךְ אַתָּה, יְיָ אֱלֹהֵֽינוּ, מֶֽלֶךְ הָעוֹלָם,אֲשֶׁר ָֽׁנוּ בְּמִצְוֹתָיו וְצִוָּֽנוּ לֵישֵׁב בַּסֻּכָּה
„Gepriesen bist Du, Herr, unser Höchster, König der Welt, der Du uns mit seinen Geboten geheiligt und uns geboten hast, in der Laubhütte zu wohnen.“
Aber warum soll man das tun? Warum soll man in einer schäbigen Hütte wohnen, wo man doch feste Häuser hat?
Damit man in die Zeit eintaucht, als das Volk Israel selbst auf der Flucht war, an die Zeit des Auszugs aus Ägypten, der vierzig Jahre gedauert haben soll und während dessen das Volk Israel kein festes Dach über dem Kopf hatte, sondern unter Bäumen geschlafen hat.
Man soll es nacherleben, als wäre man selbst dabei gewesen. Nicht einfach nur ein Erinnern, sondern dieses Nacherleben ist das Fundament des Judentums, von allem, was man feiert, woran man sich erinnert. Aber nicht um über das Schicksal zu trauern, sondern – wie es zum Laubhüttenfest im fünften Buch der Tora, den „Dewarim“ (Worte), heißt:
„Du sollst an deinem Fest fröhlich sein (…).“
וְשָׂמַחְתָּ֖ בְּחַגֶּ֑ךָ אַתָּ֨ה וּבִנְךָ֤ וּבִתֶּ֙ךָ֙ וְעַבְדְּךָ֣ וַאֲמָתֶ֔ךָ וְהַלֵּוִ֗י וְהַגֵּ֛ר וְהַיָּת֥וֹם
וְהָאַלְמָנָ֖ה אֲשֶׁ֥ר בִּשְׁעָרֶֽיךָ׃
Und die Bibel-Stelle geht noch weiter, denn das Laubhüttenfest soll man nicht für sich oder nur mit der eigenen Familie feiern, sondern mit allen, nämlich: „du, dein Sohn und deine Tochter, (…) auch die Leviten (…) und die Fremden, Waisen und Witwen, die in deiner Mitte leben.“
Die Laubhütte ist also nicht nur ein Symbol, sondern der konkrete, wirkliche Ort für ein friedliches Miteinander von Allen, für den Frieden. Deswegen betet man:
ופרש עלינו סכת שלומך
„Breite über uns die Laubhütte Deines Friedens aus.“
Wir sollen also an das Schöne denken und an Frieden – was bei einem Anlass wie heute Abend vermutlich nicht einfach erscheint.
Aber das Judentum ist eine Religion des Lebens, nicht des Todes. Im Gegensatz zu anderen Religionen richtet es sich nicht auf das Ende hin aus, auf ein Jenseits, Paradies oder Hölle u.ä., sondern auf die Gegenwart. Weil in jedem Augenblick alles lebendig wird, was dem Volk Israel geschehen ist, wenn man sich daran erinnert.
So wie Franz Rosenzweig im „Stern der Erlösung“ schreibt, dass das „jüdische Leben in jedem Augenblick am Ziel war“ (S. 472|3), es also nicht noch werden muss, nicht auf etwas hinarbeiten, wie es für andere Religionen gilt, sondern einfach leben: „Aber das lebendige Leben fragt ja nicht nach dem Wesen. Es lebt.“ (S. 387)
Und in der Tora heißt es: „Ich habe das Leben und den Tod vor Dir hingestellt, den Segen und den Fluch. Wähle das Leben, damit du lebst … .“ (Dewarim 30,19).
„Zochrenu lechaim“ wird in diesen Tagen gebetet: „Erinnere Dich unser um des Lebens willen!“
Solange man sich erinnert, wird das Volk Israel leben. Und wir können uns an die von hier deportieren Menschen erinnern, obwohl wir sie selbst nie getroffen haben, dann werden sie unter uns lebendig sein.