Alljährlich veranstaltet der Arbeitskreis Stadtgeschichte ein Gedenken an die Menschen jüdischen Glaubens, die einst inmitten Gernsbachs gelebt haben. Am 22. Oktober 1940, dem vorletzten Tag des jüdischen Laubhüttenfestes, wurden in Baden, dem Saargebiet und der Pfalz von Polizeibeamten und Gestapoleuten in der ersten großen Deportationsaktion rund 6.500 Mitbürgerinnen und Mitbürger, die jüdischen Glaubens waren, aus ihren Häusern und Wohnungen geholt. Sie wurden von Sammelpunkten aus in tagelangen strapaziösen Zugtransporten nach Gurs in die französischen Pyrenäen verschleppt. Für zwei Drittel von ihnen bedeutete die Deportation den Tod. Entweder starben sie an Entkräftung, Krankheiten und Unterversorgung oder sie wurden ab August 1942 in die Vernichtungslager im besetzten Osteuropa verbracht und ermordet. Auch aus Gernsbach wurden am 22. Oktober 1940 neun Mitbürgerinnen und Mitbürger abgeholt. Andere hatten bereits ihre Heimat verlassen oder mussten den Druck der Ausgrenzung und Verfolgung ertragen. Andere entkamen der Verfolgung nicht und wurden Opfer in einem der Konzentrationslager.
Bei dem diesjährigen Gedenken wirkten Schülerinnen und Schüler der Realschule mit ihren Lehrerinnen Elvira Schulz und Johanna Lang sowie des Albert-Schweitzer-Gymnasiums unter der Leitung von Gabriela Guth mit. Außerdem trug Lisa Schwelle, eine junge Gernsbacherin, die in den Pfarrgemeinden aktiv und derzeit ein FSJ im Jugendhaus absolviert, einen Beitrag vor.
Anne Dresel sorgte mit ihrem Waldhorn für die musikalische Umrahmung und trug mit den von ihr gewählten tragenden Weisen zur stimmungsvollen Gestaltung der Veranstaltung bei.
Regina Meier vom Arbeitskreis Stadtgeschichte betonte in ihrer Begrüßung, dass durch die Einbindung neuer Gruppen die Gedenkarbeit lebendig bleibt und ein starkes Signal gerade in diesen Zeiten von Krieg und Geiselnahme aussendet. Sie ging auf den Krieg in Israel und Palästina ein. Der Überfall der Terrorgruppe Hamas auf unschuldige Zivilisten in Israel am 7. Oktober hat ein Blutbad verursacht, das weltweit Erschrecken ausgelöst hat. Die weiteren kriegerischen Auseinandersetzungen fordern täglich Opfer. Und mit dem versuchten Anschlag auf die Synagoge in Berlin und weitere antisemitischen Handlungen ist der Konflikt hier vor unserer Haustür angekommen. „Wir hätten nie gedacht, dass Jüdinnen und Juden in Deutschland Angst haben müssen. Wir sind erschüttert, dass sie von Anschlägen bedroht sind, dass sie Hass, Gewalttätigkeiten und Drohungen erleben müssen.“ Das könne man nicht tolerieren, auch hier nicht weit weg von Berlin. „Daher stehen wir hier und stehen ein für ein freies und gefahrloses Leben von Jüdinnen und Juden in unserer Gesellschaft. Wir stehen gegen Antisemitismus und Israelhass.“
Dazu hatte sich auch Eyal Grunebaum in einem Schreiben an Irene Schneid-Horn vom Arbeitskreis Stadtgeschichte gewendet. Er ist ein Nachfahre der Gernsbacher Familie Nachmann, die in der Igelbachstraße ein Geschäft unterhielt und der bereits mehrfach in Gernsbach auf den Spuren seiner jüdischen Familie war. Er schrieb anlässlich des diesjährigen Gedenken an die Gurs-Deportation: “I applaud you and the community for continuing the ceremony, particularly during this time, as it is a reminder of how easy it is for people to forget their humanity, regardless of nationality, faith, and identity. I wish I was able to stand shoulder-to-shoulder with you!”
Frei übersetzt: „Ich applaudiere euch und der gesamten Gemeinde, dass dieses Gedenken weitergeführt wird. Vor allem in dieser Zeit, da es ein Erinnern daran ist, wie leicht es für Menschen wird, ihre Menschlichkeit zu vergessen, ungeachtet der Nationalität, Schicksal und Identität. Ich wünschte, ich könnte neben euch stehen Schulter an Schulter.“
So war es von besonderer Bedeutung, dass bei der Gedenkfeier viele junge Menschen anwesend waren. Die Schülerinnen und Schüler der Realschule Gernsbach hatten das Schicksal von Eva Stern, die in der Igelbachstraße 17 mit ihren Eltern gewohnt hatte, aufgegriffen. Sie war 15jährig mit ihren Eltern aufgrund der Ausgrenzung und Verfolgung der Juden nach Stuttgart geflüchtet, von dort wurde sie nach Riga deportiert und wegen ihres jüdischen Glaubens ermordet. Die Realschülerinnen versuchten sich in die Lage der verfolgten Eva Stern zu versetzen und formulierten in eigenen Worten ihre Gedanken zu diesem Unrecht.
In 15 Textbeiträgen machten die Schülerinnen und Schüler des Albert-Schweitzer Gymnasiums Gernsbach das grausamste Verbrechen gegen die Menschlichkeit – den Holocaust – zum Thema. Sie formulierten die Mahnung, niemals gleichgültig zu sein und für eine Welt des Friedens, der Toleranz und der Versöhnung einzustehen. Sie sind voller Entsetzen, Trauer und Unverständnis, wenn sie über das Leid nachdenken, das Andersdenkenden, Homosexuellen und Juden und vielen mehr zur Zeit des Nationalsozialismus angetan wurde. Sie hatten sich dem Schicksal von zwei Gernsbachern, Eugen Neter und Hermann Maas, beschäftigt und sprachen auch deutlich aus, dass Gernsbach, die Stadt ihrer Kindheit, diesen Vorbildern zu wenig gedenkt.
Ihr Schlussappell ging allen Anwesenden unter die Haut: „Die Erinnerung an die im Zweiten Weltkrieg ermordeten Juden ist kein rückwärtsgewandter Blick, sondern ein Aufruf zur Wachsamkeit. Möge ihr Leid uns dazu anspornen, heute und morgen für eine Welt einzustehen, die auf Respekt, Toleranz und Mitgefühl gegründet ist. In ihren Namen verpflichten wir uns, das Erbe der Menschlichkeit zu bewahren.“
Den Schluss der Redebeiträge wurde Lisa Schwelle gesetzt. Sie führtet die Ereignisse am 20. Oktober 1940 aus und formulierte am Ende einen ebenso eindringlichen Aufruf: „Damit die Worte „Nie wieder“ nicht zu einer leeren Phrase werden: Nie wieder darf Menschen ihr Wert als Menschen abgesprochen werden. Nie wieder dürfen Menschen aus unserer Mitte zu Sündenböcken gemacht werden. Wir müssen der Menschenfeindlichkeit, die immer wieder neu aufkommt, mutig entgegentreten!“
Mit einem herzlichen Dank ging Michael Chemelli, Bürgermeister-Stellvertreter, auf die Beiträge der Schülerinnen und Schüler ein. Sie hätten mit eigenen Worten die Trauer, das Unverständnis, den Protest gegen das Unrecht während der Nazi-Herrschaft eine Stimme gegeben. Er sprach Worte des Dankes an die Aktiven aus, zum einen den jungen Beteiligten mit den vorgetragenen Gedanken sowie der Musik. Sein Dank galt auch der Initiative des Arbeitskreises Stadtgeschichte, die in jedem Jahr das Schicksal der einstigen Gernsbacherinnen und Gernsbachern jüdischen Glaubens lebendig hält.
Zum Schluss verlas er die Namen der 1940 Deportierten: „Wir gedenken Hilda Dreyfuß – Arthur Kahn – Erna Kahn – Lieselotte Kahn – Margit Kahn -Eugen Lorsch -Heinz Lorsch -Bertha Marx und Hermann Nachmann.“ Dabei wurde jeweils eine Kerze entzündet und zu den Gedenksteinen getragen. Danach ging die Versammlung in Stille auseinander.