In einer Gedenkfeier am Samstag, 22. Oktober 2022 erinnerte der Arbeitskreis Stadtgeschichte an die letzten Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens, die 1940 in die französischen Pyrenäen deportiert wurden. Schülerinnen und Schüler der 9. Klasse der Realschule mit ihren Lehrerinnen Elvira Schulz und Johanna Wilhelm-Lang gestalteten die Feier aktiv mit: sie trugen abwechselnd einen Text vor. Im Namen der katholischen und evangelischen Gemeinden Gernsbachs beteiligten sich Regina Meier und Stephan de Laporte jeweils mit einem Impuls. Ullrich Schumann ging auf die Bedeutung des Erinnerns und die Synagoge für den jüdischen Glauben ein. Die musikalische Umrahmung durch Anne Dresel mit ihrem Waldhorn gab der Veranstaltung einen würdigen Rahmen.
Irene Schneid-Horn hielt auf dem Salmenplatz die folgende Einführung:
“Am 22. Oktober 1940, am Morgen des letzten Tages des Laubhüttenfestes, wurden die letzten neun Gernsbacher Mitbürger jüdischen Glaubens von den Mitarbeitern der Geheimen Staatspolizei aufgesucht. Die Familien Kahn, Lorsch und Nachmann wohnten ganz in der Nähe in den Häusern Bleichstr. 2, 4 und 10. Innerhalb einer Stunde sollten sie Handgepäck packen, Verpflegung für zwei Tage und 100 Reichsmark in bar pro Person mitnehmen.
Unweit von hier an der Stadtbrücke bestiegen sie um 11.00 Uhr die Lastwagen für den Transport zum Bahnhof Rastatt, um von dort aus die Bahnfahrt nach Gurs an der spanisch-französischen Grenze anzutreten. Über 6500 jüdische Mitbürger aus Baden, der Pfalz und dem Saarland wurden an diesem Tag auf dieselbe Weise deportiert. Die nationalsozialistischen Gauleiter dieser Reichsgaue meldeten als erste: Unsere Gaue sind judenfrei. Aus Gernsbach überlebten nur die drei Kinder Heinz Lorsch, Lieselotte und Margit Kahn den Holocaust an der jüdischen Bevölkerung.
Alljährlich erinnern wir als Arbeitskreis für Stadtgeschichte an die Deportation und das begangene Unrecht. Zwei Gedenksteine gibt es dazu an der Stelle, wo diese neun Menschen verschleppt wurden. Der erste wurde im Jahr 2000 aufgestellt, den zweiten haben im Jahr 2008 haben Firmanden der katholischen Gemeinde und Konfirmanden der evangelischen Gemeinde gestaltet. Zu diesem Stein gibt es einen Zwilling, der im zentralen ökumenischen Mahnmal in Neckarzimmern steht. Sie zeigen ein Floß aus Baumstämmen, mit Flößerhaken zusammengehalten, doch links greifen die Haken ins Leere, dort ist der Stamm der jüdischen Mitbürger weggerissen, sie fehlen dem Leben der Bürgergemeinschaft bis heute.
Heute wollen wir uns an sie erinnern, wir wollen ihre Namen aussprechen, mit denen sie vor Gott und den Menschen bekannt sind. Wir wollen ihres Lebens unter uns gedenken, in Trauer und Scham über die Ereignisse vor nunmehr 84 Jahren.
In diesem Jahr möchten wir einen weiteren Aspekt des von den Nazis an den Juden begangenen Unrechts einfließen lassen. Wir erinnern mit der Person von Richard Fuchs an die Menschen, die nicht deportiert und umgebracht wurden: Juden, die ahnten, dass ihr Leib und Leben bedroht waren und die daher ihre Heimat verließen und in eine ungewisse Zukunft emigrierten. Das bedeutete für viele von Ihnen einen krassen Bruch ihres bisherigen Lebens. Vor 1933 waren sie in Deutschland angesehen, integriert, hatten einen guten Beruf und ein gutes Einkommen, Hobbies, Freunde und die Möglichkeit sich zu entfalten. Diese Lebensumstände wurden durch die Nazis nach und nach eingeschränkt und zunichte gemacht. Um ihr pures Leben zu retten, flohen viele und ließen alles zurück.
Ein Beispiel dafür ist Richard Fuchs, der Architekt der Gernsbacher Synagoge. Er verfügte über eine künstlerische Doppelbegabung als Ingenieur und Musiker. Nach dem Musikstudium im Fach Klavier absolvierte er ein Architekturstudium und wurde als damals (1920er) schon erfolgreicher Architekt mit dem Bau der Gernsbacher Synagoge betraut. Sein Werk wurde bei der Einweihung im Jahr 1928 in den höchsten Tönen “als Zierde des Murgtals” gelobt. Dennoch: schon zehn Jahre später versank dieses hochgepriesene Gebäude in Schutt und Asche. Nazischergen hatte es angezündet. Jüdische Kultstätten, jüdische Kultur, jüdisches Leben – alles sollte auf immer ausgelöscht werden. Viele Juden wurden vertrieben und ermordet.
Richard Fuchs gelang zwar die Emigration nach Neuseeland, doch sein Leben war gebrochen. Seine Talente konnte er fortan nicht mehr zeigen, und er versank in Vergessenheit. „In Deutschland war er der Feind, da er Jude war, in Neuseeland weil er Deutscher war“, schildert der Enkel [Danny Mulheron] das freudlose Leben von Richard Fuchs im Exil.
Vor genau einem Monat kam er in Form seiner Musik zurück. Ein historischer Tag! Am 22. September 2022, an seinem 75. Todestag, fand – organisiert vom Arbeitskreis Stadtgeschichte – ein Gedenkkonzert mit Werken von Fuchs in der Stadthalle statt. Damit wurde ein wichtiges Zeichen gesetzt: Mögen die Nazis auch Bücher, Synagogen, Menschen verbrannt haben, es ist ihnen nicht gelungen, das kulturelle Wirken von Juden auszulöschen. Es lebt weiter, auch wenn es – wie im Falle von Richard Fuchs – jahrzehntelang verschüttet war.”
Die Gedenkfeier klang aus, nachdem Bürgermeister Julian Christ die Namen der neun Deportierten verlesen hatte und die Kerzen an die Gedenksteine an der Stadtbrücke getragen worden waren.